Ihr erster Roman ist fertig. 800 Seiten sind es geworden. Sie haben 2 Jahre daran gearbeitet. Sie haben ihn mehrfach überarbeitet. Sie haben die ursprünglichen 900 Seiten um 100 Seiten gekürzt. Freunde haben Ihnen bestätigt, dass Sie den Roman, einmal angefangen, gar nicht mehr aus der Hand legen wollten. Sie sind stolz. Sie sind überglücklich. Und Sie schicken Ihren 800-seitigen Roman an einen Verlag, den Sie sorgfältig ausgesucht haben.
Erwarten Sie bitte nicht, dass sich irgendjemand dort darüber freut. Lektoren sind chronisch überlastet. Ihr 800-Seiten-Manuskript ist zunächst nichts als ein weiterer Papierberg, der auf einem Stapel mit der imaginären Inschrift "unerledigte Aufgaben" abgelegt wird. Von hier aus drückt er aufs Gewissen. Sein Anblick verursacht Schweißausbrüche. Soll die Lektorin heute eine Überstunde machen? Sie hat sowieso schon so viele auf ihrem Arbeitszeitkonto. Seien Sie sicher: Am liebsten würde die Lektorin das Manuskript unbesehen in den Papierkorb werfen. Doch halt — Sie haben Rückporto und einen adressierten Rückumschlag beigelegt. Dann wird die Lektorin Gnade vor Recht ergehen lassen — und das Manuskript auf dem Postweg entsorgen.
Sie müssen die Lektorin verstehen: Tag für Tag bekommt sie mehrere dieser unverlangt eingesandten Manuskripte. Die meisten entpuppen sich als Strohfeuer. Viele sind uninteressant. Andere passen nicht ins Verlagsprogramm. Sehr viele sind sehr schlecht geschrieben. Von Neurotikern und Wahnsinnigen verfasst — ohne Rücksicht darauf, dass je ein Mensch das Geschrieben lesen können soll. — Ganz anders Ihr Manuskript! Es hätte gute Chancen gehabt. Aber woher sollte die Lektorin das wissen? Dazu hätte sie es lesen müssen.